6. Tourstadt – Kassel

27.09.2025 – Kassel
 
Es ist 4:30 Uhr und ich mache mich müde auf dem Weg zum Bahnhof in München. Zu diesen Uhrzeiten stehe ich als Langschläferin aus Prinzip nur für zwei Sachen auf: Einen Notfall im Freundeskreis – oder: um in den Zug zu steigen, um die Kinderklinikkonzerte für einen Tag zu supporten. Also auf geht’s mit Essen und Vereinskleidung im Gepäck, vorbei an Oktoberfest-Leichen, ab nach Kassel.
 
Die ganze Woche habe ich in der gemeinsamen Tour-WhatsApp-Gruppe und natürlich auf Social Media mitbekommen, was auf Tour abging. Jetzt bin ich froh, für heute ein Teil davon zu sein und vor allem das Team, das seit Tagen aktiv ist, hoffentlich etwas entlasten und supporten zu können. Denn als eines der sechs Mitglieder, das heute „nur“ für ein Konzert anreist, habe ich die spannende Herausforderung, zu schauen, wo ich etablierte Abläufe nicht störe und gleichzeitig richtig gut helfen kann.
 
Als ich nach 3,5 Stunden Fahrt endlich am Klinikum Kassel angekommen bin und von den Teammitgliedern am Nightliner herzlich umarmt werde, merke ich: Alle haben Bock auf die letzte Klinik der Tour. Trotzdem: die Müdigkeit ist da. Kein Wunder – in einer Zwischenpause schaut ein Teammitglied auf ihre Smartwach. Ca. 10 Kilometer ist sie pro Tag seit Tourbeginn gelaufen – mindestens 15.000 Schritte.
 
Wir sind zum dritten Mal an der Klinik in Kassel und man merkt, dass die Abläufe hier sehr gut eingespielt sind: Wir sind fast eine Stunde eher mit Trailer ausladen fertig. Unser Catering-Team ist durch das seitens der Klinik hervorragende Catering fast schon arbeitslos. Wie immer dürfen wir für unser Team einen extra abgesperrten Teil der Personal-Kantine nutzen – es ist so viel Platz, dass wir auch dort die Geschenktüten gemeinsam packen können, was die Logistik enorm erleichtert.
 
Fehlt nur noch das Wichtigste: die Kinder und die KünstlerInnen. Heute feiert Nevio Passaro seine Kinderklinikkonzerte-Premiere, genauso wie Wilhelmine, die ich letztes Jahr noch im Olympiastadion als Voract von Coldplay gesehen habe – von der riesen Bühne geht’s heute ab für sie auf die Kinderkrebsstation und Intensivstation in den ersten beiden Konzertslots. Und: ela. ist als dritte Artist mit dabei, sie ist unserem Team in ihren letzten beiden Auftritten für den Verein echt ans Herz gewachsen. Keine KünstlerInnen-Ausfälle, letzter Tourtag, es kann losgehen.
 
Auf der Intensivstation können heute alle PatientInnen nicht aus dem Bett. Heißt: individuelle Zimmerkonzerte – entweder wenn es aus Infektionsgründen nicht anders geht im Flur bei geöffneter Tür, oder direkt am Bett. Wir lernen in Zimmer 14 einen über 30-Jährigen kennen, der ein Drittel seines Lebens im Krankenhaus verbracht hat, wie uns die Therapeutin erzählt. Der junge Mann freut sich riesig über die Abwechslung, klatscht mit und strahlt auf dem Foto mit allen KünstlerInnen in die Kamera. Als wir schon fast durch sind auf der Station, kommt die Therapeutin und fragt, ob wir doch noch in Zimmer 10 gehen können – die Eltern eines sehr kleinen Babys haben uns bei ihrem Besuch gehört und wünschen sich ein bisschen Musik – das machen wir doch sehr gerne. Sie schauen ihr Kind die ganze Zeit voller Liebe an, während ela. singt. Nicht nur im Zimmer fließen danach die Tränen.
 
Nach einer kleinen Kaffeepause geht’s weiter mit den Konzerten, diesmal im schönen Atrium der Kinderklinik. Die Kinder, Geschwister und Eltern von mehreren Stationen haben sich dort gesammelt und sind gespannt auf die KünstlerInnen, denn sie wissen bis zum Moment der Vorstellung nie, wer sie genau sind. Gemeinsam mit meiner Handpuppe, Rabe Rupert, sitze ich in Reihe zwei und versuche, die Kinder zur Bewegung zu animieren, während die Artists eine gute halbe Stunde singen. Krankenschwestern in blauen Kitteln, die Fenster öffnen und das Filmen beginnen und sich nach und nach PatientInnen-Chöre zu den Hooks bilden.
 
Auch meine Namensvetterin Annicka singt am Ende leise mit, sie hofft, morgen entlassen zu werden. Ihr linker Arm ist fett eingegipst. Eigentlich wollte sie heute einen Spieleabend mit ihren FreundInnen machen – der fällt jetzt dank Krankenhaus flach. Bis sie in unserer Geschenktüte den Stadt-Land-Vollpfosten-Block mit strahlenden Augen entdeckt und die Eltern direkt zu einer Runde für danach auffordert.
 
Auf der Infekt-Station packt ein junges Mädchen in Begleitung von Wilhelmine und ela. gerade nach dem Konzert die Box voller Schminke von unserem langjährigen Sachspenden-Partner essence aus und freut riesig über die Geschenktüte, die jedes Kind nach dem Konzert bekommt. Rabe Rupert und ich fragen die 12-Jährige, wie es ihr denn gerade geht. Antwort mit strahlenden Augen: „Jetzt besser.“ Es sind solche Momente, die mir zeigen, warum wir das tun, was wir tun und dass es wichtig ist, wie wir es tun.
 
Denn es geht nicht nur um die Musik, es geht darum, dass eine Familie sie gemeinsam erleben kann. Und es geht nicht nur um das Konzert, sondern auch um das danach. Denn zu jedem Konzert gehört ein After-Konzert-Moment und da viele der Kids, die wir kennenlernen, nicht jubelnd in Arenen sitzen und in die Moshpits gehen können, gibt’s auf Wunsch direkt Fotos und Polaroids mit den Artists und eben eine Geschenktüte. Denn das Konzert war heute, aber morgen geht das Krankenhaus-Leben weiter. Und wir können, wie den Song, den man am Tag danach nochmal hört, mit unserer Geschenktüte der kleine Lebe-Moment sein, der die Kids daran erinnert, dass nachhaltige Konzert-Erinnerungen an allen Orten geschaffen werden können: in Stadien, in Clubs – und auch in Krankenhäusern.
 
Nachdem wir zum letzten Mal mit ela. „glücklich“ gesungen und gewesen sind, zum letzten Mal „amore per sempre“ im Chor mit Nevio durch den Stationsflur geschallt ist und wir bei der Hook von Wilhelmines Song „Solange du dich bewegst“ beim Singen unsere Kuscheltiere und Handpuppen etwas näher zu uns heran gezogen haben, ist die Kinderklinikkonzerte-Tour dann auch schon wieder vorbei.
 
Nach einem gemeinsamen Abendessen und langen Umarmungen startet der Zug zurück nach München. Gegen 2:30 Uhr falle ich dann todmüde, aber glücklich ins Bett. Heute war ein langer, aber ein sehr sinn-voller und guter Tag.

Eure Annika

Fotos: Julia Tiemann
Video: Calvin Müller